Wenn man mit dem Auto von Hamburg kommend gen Süden fährt, bei Bremen rechts abbiegt und hinter Oldenburg die Autobahn verlässt, wenn man danach noch 50 Kilometer durch eine Landschaft fährt, die aussieht wie ein grau-grünes, nachlässig gespanntes Betttuch, vorbei an gewaltigen Torf-Feldern und entlang wie mit dem Lineal gezogener Kanäle – dann gelangt man irgendwann nach Börger, und in Börger ist mindestens einmal im Jahr richtig was los: der Frühjahrspreis, das wahrscheinlich größte Radrennen im Umkreis von 200 Kilometern, das man im April finden kann.
Eisenwade war gemeldet – Tag der Wahrheit nach dem ganzen Wintertraining bei Kälte, den vielen Kilometern auf der Rolle und dem Trainingslager auf Mallorca. Mal gucken, wie er sich schlagen würde, im ersten Jahr in der U15. Wir hatten keinerlei Erwartungen, aber dennoch war auf der Hinfahrt zu spüren, dass der Kerl sich allerhand Gedanken machte. Auch darüber, wem auf dem Mittelstreifen der Autobahn ich zugewunken haben mochte – „Kamera“, hatte ich ihm erklärt. „Kamerad“ hatte er verstanden und war ins Grübeln geraten. Wahrscheinlich steht ein Batteriewechsel bei seinen Hörgeräten an, und kurz vor Bremen hatten wir die Sache dann auch geklärt.
Auch wenn ich wegen momentan noch fehlender Wettkampfreife nicht antreten wollte, hatte ich das Rad mit, für die gemeinsame Streckenbesichtigung. Schon bei der Erkundungsrunde war mehr los, als bei mancher Klein-Veranstaltung. Das lag sicher auch daran, dass das U17-Rennen als Sichtungsrennen ausgewiesen war und ein stattliches 115-Mann-Fahrerfeld an den Start ging. Jedenfalls war der ganze kleine Ort vollgestellt mit Wohnmobilen, viele von ihnen mit Kennzeichen aus dem nahe liegenden Holland. Die Strecke selber bewerteten wir einstimmig als wunderbar, nur zwei drei Kurven versprachen etwas heikel zu werden, aber von halbwegs vorne gefahren, sollten die machbar sein, fand Noah, der sich besonders über einen kleinen Anstieg freute, den die Strecke immerhin auch aufzuweisen hatte.
Als die Rennleitung die rund 35 U15-Fahrer auf die Strecke geschickt hatte, begann für mich das übliche Zittern. Ich bin ja immer wahnsinnig aufgeregt, wenn der Kerl fährt, und habe stets furchtbare Angst, dass das Feld wieder vorbei rollt – aber ohne Noah, weil es ihn irgendwo gerissen hat. In Börger nun musste ich recht lange warten – die Runde hatte nicht ganz 14 Kilometer und musste zwei Mal durchfahren werden. Wie immer stampfte ich wie ein nervöses Rumpelstilzchen von einem Bein aufs andere bemühte ich mich erfolgreich um äußere Gelassenheit. Endlich, das Führungsfahrzeug! Und direkt dahinter das Feld, auf leicht abschüssiger Start-Ziel-Gerade, mit Rückenwind. Da war er! Rasend schnell surrten die Fahrer an mir vorbei, aber ich hatte ihn gesehen, eindeutig. Fast ganz hinten zwar, aber noch im Hauptfeld, anders als einige bereits abgesprengten Fahrer, die noch folgten. Mein Herz hüpfte. Der Stinker hatte sich zur Halbzeit bereits wacker geschlagen! Ich hätte sogar Verständnis gehabt, wenn er zu diesem Zeitpunkt bereits abgehängt worden wäre, man konnte ja vorab schlecht abschätzen, wie er sich auf einem so schnellen Kurs halten würde. Super!
Und wieder warten. Ein heißer Kaffee von Familie Prien. Schneller Puls.
Gute 20 Minuten später tauchte in der Ferne das Führungsfahrzeug wieder auf. Jetzt aber! Vorne ging die Post ab, die Jungs gaben alles, deutlich jenseits der 50 Km/h (Glückwunsch an Daniel zum hervorragenden 4. Platz), und: Da! Da! Da! – da war auch Noah! Seine Beine wirbelten – im Hauptfeld. Vorne mit durchgekommen – wie toll war das denn!! Platz 14, wie wir später erfuhren, Granate! Ein kleiner Glückshormontsunami durchrollte meinen Körper und ich rannte schlenderte zur Übersetzungskontrolle, um ihn dort abzufangen und zu beglückwünschen. Dort allerdings war ich etwas überrascht von seinem gequälten Gesichtsausdruck.
„Eisenwade, wie toll war das denn, du geniales Stinktier, Glückwunsch!!!“ hob ich an, aber der Kerl schaute mich mit wässrigen Augen an und drückte mit belegter Stimme leiser hervor: „Es war total doof.“
Eigentlich war es eine sehr schöne Runde, die mir total entgegen kam. Zum Warmfahren hatten Papa und ich uns die rund 13 Kilometer lange Strecke angeschaut. Etwa 500 Meter der Strecke führten durch das Dorf Börger, danach war man irgendwo im Nirgendwo. Die Strecke führte über eine breite und viele schmale Straßen, rund um einen Militärübungsplatz. Sogar eine Steigung war drin! Nach dem Erkunden der Strecke habe ich mich dann noch mal auf der Rolle richtig warmgefahren, danach ging es an den Start. Ich hatte mich bei der Aufstellung schlauerweise direkt in der ersten Reihe positioniert, wurde dann beim Aufrücken aber bereits etwas von vorne nach hinten durchgereicht. Trotzdem war ich nach dem Start noch relativ gut positioniert und fuhr die ersten zwei oder drei Kilometer gut im ersten Drittel mit. Leider war ich dann einen Moment unachtsam und schon war ich ganz hinten. Ich fuhr die erste Runde also immer im letzten Drittel und schaute mich die ganze Zeit nach einer Lücke um. Leider war da nichts. Es war wie eine große rollende Wand, man kam einfach nicht nach vorne, wenn man einmal hinten war. Und wenn man dann doch mal eine Lücke erwischt hatte, wurde man gleich von irgendeinem Penner Amateur von der Straße befördert – einmal fuhr ich sogar kurz auf dem Grünstreifen. Na ja, für die zweite Runde hatte ich mir vorgenommen, einen Ausreißversuch zu starten und zwar auf der breiten Straße nach dem Start/Ziel-Bereich. Ich dachte, da komme ich dann von hinten besser durch. So die Theorie. Abgesehen davon, dass nach der Glocke zur letzten Runde noch mal richtig Gas gegeben wurde, tat sich auch auf der großen Landstraße keine Lücke auf. Jedenfalls habe ich immer wieder versucht, nach vorne zu kommen, aber es hat irgendwie nicht geklappt. Auf der Zielgeraden konnte ich dann immerhin noch ein paar Fahrer überspringen und belegte den 14. Platz. Eigentlich bin ich im Nachhinein ganz zufrieden, immerhin bin ich noch im ersten Jahr, aber ich glaube, von der Kraft her hätte ich deutlich besser fahren können. Ich war halt nicht so gut positioniert, hab ich nicht hinbekommen, das muss ich noch lernen. Ich war schon extrem ein bisschen enttäuscht und deshalb hab ich nach dem Rennen aus Frust zwei statt einer Currywurst verdrückt. Dann habe ich mich noch ein bisschen ausgefahren, einmal halb um das Dorf rum und wieder zurück, danach noch schnell den Zieleinlauf der U17er geguckt, und und dann ging es auch wieder zurück nach Hamburg. Die Rückfahrt verlief zum Glück problemlos, Keine Kameraden und Staus in Sicht. Als kleine Entschädigung dann am Nachmittag doch noch was Tolles: Peter Sagan hat die Flandernrundfahrt gewonnen. Es gibt absolut keinen Rennfahrer, den ich mehr bewundere als Peter Sagan – der ist echt der Beste!!!