Oderrundfahrt 2016

Spätestens an der letzten Steigung der Tour, am dritten Tag, auf der vierten Etappe, fielen die Fassaden. Zwei-, dreihundert Meter ganz schwer zu fahrendes Kopfsteinpflaster mit zweistelligen Steigungsprozenten, dann eine scharfe Rechtskurve und noch mal 150 Meter Kopfstein bergauf bis zum Ziel. Es kristallisierten sich heraus: die Stillen, die Aufgeregten und die Choleriker. Die Stillen sind häufig die Mütter, die leise mitleiden und sich auf die Unterlippe beißen, wenn der Sohn oder die Tochter sich mit 6 km/h ächzend oder vor Schmerz brüllend den Berg hinauf quält. Die Aufgeregten, zu denen zähle ich, sind die, die alle paar Sekunden nervös auf die Uhr schauen und von einem Fuß auf den anderen treten, als gelte es, mit den Füßen einen Waldbrand zu löschen. Müssten sie jetzt nicht langsam kommen? Warum kommen die noch nicht? Ob was passiert ist? Hoffentlich ist nichts passiert! Schnell noch den Zeigefingernagel abgekaut, der letzte, der noch dran ist. Dann kommt das Führungsfahrzeug, endlich. Die Führungsgruppe ist durch, gut, das sind die großen. Die zweite Gruppe kommt, auch große Fahrer und das Trikot des Führenden des jungen Jahrgangs. Dann eine quälend lange Lücke. Wann kommt er? Da! Die nächste große Gruppe! Da! Im gelben Trikot, da ist er, er schafft das! Und, klar, dann rufe ich auch: „Los Noah, super, du bist klasse, gib Gas, Hintern schön nach hinten!“

Und dann gibt es noch die anderen. Es sind nicht viele, aber doch ein paar. Die laufen den Berg hinauf, neben ihrer Tochter oder neben ihrem Sohn, und sie schreien ihr Kind an, dem die Tränen die Wangen runterlaufen: „Los jetzt, Feuer, jib allet, die kriegste noch, jetz jib mal Gas, dit wirste ja wohl schaffen, treten, TRETEN, TRETEN, los jetzt, da haste doch mehr druff, da vorne fährt XY, die/den holste dir jetzt, LOOOOOS!“

Es ist ein bisschen gruselig.

Ganz bestimmt projiziere auch ich einen Teil meines persönlichen Ehrgeizes in Eisenwade. Da muss man sehr aufpassen, das weiß ich, klar. Aber ich würde doch nie, nie, nie mein Kind, das sich irgendwo im Mittelfeld einen verdammten Berg hochquält, anschreien, wenn es bereits weint.

Am Streckenrand habe ich mich mit einigen Trainern unterhalten. Ich kenne ja in der Szene quasi niemanden, aber einige sagten sehr vernünftige Sachen, fand ich. Etwa: 60 Kilometer reichen im Training vollauf bei den jungen U15ern, alles andere ist Überforderung und macht es nur schwerer, später neue Reize zu setzen. Gekauft. Bei anderen musste ich mich wundern, wenn auch mit Verspätung. Dem Satz: „Die müssen sich zwischen Schule und Radsport entscheiden“, pflichtete ich entschieden kopfnickend bei, lernte aber kurz darauf, dass mein Gesprächspartner eine andere Entscheidung für selbstverständlich hielt als ich.

Na, ja, jeder so, wie er will und kann.

Die Kurzzusammenfassung der Oderrundfahrt: Wir waren aus meiner Sicht ein super Sechser-Team, ne gute Männertruppe bestehend aus Daniel, Hannes und Eisenwade, plus die Papas. Wir drei Väter waren auch rund um die Uhr gut beschäftigt, Langeweile kam jedenfalls nicht auf, und eigentlich haben wir sogar einen gut bei den Jungs, weil wir am zweiten Tag netterweise ihre Räder geputzt haben. Aber nur, weil wir Mitleid hatten – die Kerle waren nach zwei Etappen echt platt, so platt, dass einer in meinem Zweierzimmer und der andere noch nicht mal bis zur Verlängerung des Deutschlandspiels durchgehalten hat.

Daniel ist hervorragender Gesamtsechster geworden. Hannes, gut in Form, hatte auf der letzten Etappe großes Pech, wurde von so einem Luxemburger Idioten-Fahrer abgeschossen und musste das Vorderrad wechseln (ja, da waren wir nicht perfekt, das hat zu lange gedauert, sorry, Hannes), was ihn, weil er die Gruppe verlor, wahrscheinlich fünf oder sechs Plätze in der Gesamtwertung gekostet hat (nun gesamt 22.). Und Noah ist 39. geworden und 9. bei den jungen Fahrern. Das ist wirklich richtig toll, wenn man berücksichtigt, dass er auf der ersten Etappe über den Lenker gegangen ist, beim Zeitfahren noch mit Schmerzen zu kämpfen hatte, bei der dritten Etappe von mir gesagt bekommen hat, dass er die Höllenabfahrt bitte langsam fahren soll (gut, er wäre auch von sich auch nicht schnell bergab gefahren, ein paar Sachen müssen wir noch üben) – und erst am letzten Tag zeigen konnte, was er drauf hat. Ich jedenfalls platze vor Stolz und musste auf der ganzen langen Rückfahrt heimlich grinsen – und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen: Der Kerl ist auch sehr, sehr zufrieden.

Ein tolles, langes Wochenende!

Danke an Sven für das Foto der drei Kämpfer! Gelbe Trikots vor wogendem Weizen – das ist Brandenburg.

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